Klinikum Universität München // Jahresbericht 2014 - page 51

Kinder-und Jugendmedizin
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Mehr Informationen zuProf. Koletzkos
Forschungsprogramm „EarlyNutrition“
unter
Ü
bergewicht und Fettleibigkeit
sind Massenphänomene – lei-
der auch unter jungen Men-
schen. In Deutschland ist bei Kindern,
Jugendlichen und jungen Erwachse-
nen unter 20 Jahren etwa jeder sechs-
te übergewichtig, rund jeder zwanzigs-
te leidet unter krankhafterFettleibigkeit
(Adipositas). Mit steigendem Gewicht
erhöhen sich die Risiken für Folge-
krankheiten wie Diabetes, Krebs und
Herz-Kreislauf-Leiden. Studien der ver-
gangenen Jahre zeigen inzwischen sehr
eindrucksvoll, „dass die Ernährung in
der Schwangerschaft und im frühen
Kindesalter das spätere Risiko für Adi-
positas undDiabetes beeinflusst“, sagt
Prof. Berthold Koletzko vom Dr. von
Haunerschen Kinderspital. Der Leiter
der dortigen Abteilung Stoffwechsel-
undErnährungsmedizinkoordiniertdas
Forschungsprogramm„EarlyNutrition“
mit Förderung durch die Europäische
Union. Dabei untersuchen Forscher
aus Europa, den USA und Australien,
wieErnährung inSchwangerschaft und
früher Kindheit, frühes Wachstum und
die langfristigeGesundheit zusammen­
hängen.
KoletzkosTeamwird innerhalbdesPro-
jekts mit 2,8 Millionen Euro gefördert
und bearbeitet das Thema seit rund
zwei Jahrzehnten. Sein Team hat bahn-
brechende Erkenntnisse gewonnen, die
inzwischen sogar von Herstellern von
Säuglingsnahrung in die Praxis umge-
setzt werden. Seine inzwischen bewie-
seneHypothese: „Eine zu hohe Eiweiß-
zufuhr im Säuglingsalter erhöht das
Risiko einer Adipositas schon im Alter
von sechs Jahren um das Zweieinhalb-
bisDreifache.“
Ganz am Anfang hatten die Münchner
Forscher ineinergroßenBeobachtungs-
studie in Bayern mit 9.000 Kindern er-
mittelt: „25ProzentwenigerKinderwer-
den im Schulalter fettleibig, wenn sie
in den ersten Lebensmonaten gestillt
werden – im Vergleich zu nicht gestill-
tenKindern.Muttermilchhat also einen
schützenden Effekt.“ Aber warum? Ge-
stillte Kinder erhalten mit der Mutter-
milchweniger Eiweiß, als es traditionell
bei Flaschenfütterung gegeben wird.
BegründetdasdieschützendeWirkung?
Und nicht eine erhöhte Fettzufuhr, was
vielleicht naheliegender gewesenwäre.
„Aber in dieser frühen Phase der Pro-
grammierung sind die Weichen eben
anders gestellt“, sagt Koletzko, „Kinder
sindkeinekleinenErwachsenen.“
UmGewissheit zu bekommen, starteten
sein Team und Ärzte aus vier weiteren
europäischen Ländern die CHOP-Studie
(European Childhood Obesity Project-
Studie). Seit inzwischenmehr als einem
Jahrzehnt analysierten die Forscher die
Entwicklung von 1.678 Neugeborenen.
Drei Gruppen wurden gebildet: Kinder,
die länger als drei Monate lang gestillt
wurden.UndKinder,dieschonkurznach
derGeburtmitderFlaschegefüttertwur-
den. Die einen erhielten seinerzeit übli-
che Flaschenmilchmit höheremEiweiß-
gehalt, die anderen speziell hergestellte
Milchmit niedrigerem Proteingehalt. In
regelmäßigen Abständen vermaßen die
ForscherdiekleinenProbanden–Größe,
Gewicht undweitereParameter.
Die Ergebnisse: Bereits im Alter von
sechs Monaten zeigten sich erste Un-
terschiede in der Gewichtsentwicklung
zwischendenGruppenmit unterschied-
licher Flaschennahrung. Ein hoher Pro­
teingehalt inBabymilchführtedazu,dass
dieKinder indenerstenbeidenLebens-
jahren deutlichmehr Gewicht zulegten
als die Mädchen und Jungen, die Fla-
schennahrungmitwenigerEiweißbeka-
men. Noch deutlicher waren dieUnter-
schiede im frühen Schulalter mit sechs
Jahren. Die 2014 veröffentlicheAuswer-
tung ergab: Kinder, die in ihren ersten
beiden JahrenvielProteinbekamen,hat-
ten im frühenSchulalterein fastdreifach
erhöhtes Risiko für Übergewicht. An-
ders die jungen Probanden, deren Fla-
schennahrung weniger Eiweiß enthielt:
Sie hatten einen normalen Body-Mass-Index, der sichnicht vonden früher ge-
stilltenKindernunterschied.
„Wir können also mit wenig Aufwand
riesige präventive Effekte erzielen“, er-
klärtKoletzko. „DieSäuglingsernährung
zu verbessern ist viel einfacher, als im
späteren Alter liebgewordene Gewohn-
heiten imErnährungs- undBewegungs-
verhalten zu verändern. Und wir kön-
nen esMenschen viel leichter machen,
wenn wir sie gar nicht erst in die Risi-
kozone für Übergewicht katapultieren.“
Das hat offenbar auchdie Industrie auf-
grundder Ergebnisse begriffen. „Welt-
weit verändern Hersteller von Baby-
nahrung bereits die Zusammensetzung
ihrer Produkte hin zu weniger Protein-
gehalt“, erklärt BertholdKoletzko – und
gleichensiedamitdemVorbildderMut-
termilch ein Stückweit näher an. „Und
das“, sagt der Kinderarzt, „ist überaus
erfreulich.“
»Kinder sindkeine
kleinenErwachsenen«
Die ersten 1.000Tage desmenschlichenLebens vonder Empfängnis
anbeeinflussenmassivdasProgramm für das spätereWohlbefinden
unddie langfristigeGesundheit.Wissenschaftler desDr. vonHaunerschen
Kinderspitals erforschendieZusammenhänge.
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