Akute inflammatorische demyelinisierende Polyradikuloneuropathie (AIDP)/Guillain-Barré-Syndrom (GBS)

Einführung

Die akute inflammatorische demyelinisierende Polyradikuloneuropathie (AIDP) ist eine entzündliche Erkrankung des peripheren Nerven, charakterisiert durch eine Infiltration des Nervengewebes durch Lymphozyten und Makrophagen, die eine Zerstörung des Myelins (umhüllende Struktur der Nervenfasern) zur Folge haben. Diese Erkrankung wird allgemein nach den Erstbeschreibern als Guillain-Barré-Syndrom (GBS) bezeichnet. Die Diagnose kann aufgrund typischer Befunde in Elektrophysiologie und Liquor gestellt werden (siehe Zusatzbefunde).

Klinischer Verlauf

Das klassische GBS ist eine demyelinisierende Neuropathie. Mittlerweile sind auch axonale Verlaufsformen bekannt. Eine klinische Einteilung in Untergruppen kann anhand der betroffenen Nervenfasern erfolgen: motorisch, sensomotorisch, sensibel, mit Hirnnerventeiligung. Typisch sind Paresen, die häufig distal-symmetrisch beginnen und sich innerhalb einigerTage nach proximal ausdehnen können bis hin zu Schluckstörungen und Ateminsuffizienz (in ca. 25 %). Die Lähmungen treten meist in den Beinen zuerst auf, können sich aber auch an den Armen und an der Gesichtsmuskulatur manifestieren. In der Mehrzahl der Fälle kommt es nach 2 - 4 Wochen zu keiner weiteren Progredienz der Paresen. Zu Beginn der Erkrankung kommen Dysästhesien und Parästhesien vor, im Verlauf entwickeln sich sensible Defizite.

Zu beachten ist, dass Dysfunktionen des autonomen Nervensystems häufig sind. Es können Herzryhtmusstörungen auftreten wie Sinustachykardie, Bradykardie, Gesichtsrötung, orthostatische Dysregulation mit Hypotension.

Varianten des GBS

  • Bei der akuten sensomotorischen axonalen Neuropathie (ASMAN) kommt es zu schweren Paresen, Sensibilitätsstörungen, raschem Verlauf und inkompletter Rückbildung. Die Erkrankung ist assoziiert mit Antikörper-Bildung gegen Ganglioside (GM1, GM1b, GD1a).
  • Die akute motorische axonale Neuropathie (AMAN) ist durch akut auftretende Paresen mit besonders rascher Progredienz ohne Sensibilitätsstörungen gekennzeichnet und assoziiert mit vorausgegangener Campylobacter-Infektion sowie Antikörper-Bildung (GM1, GM1b, GD1a, GalNac-GD1a). Ein Teil dieser Patienten zeigt eine rasche Remission.
  • Das Miller-Fisher-Syndrom ist gekennzeichnet durch das klinische Trias Ophthalmoplegie, Ataxie, Areflexie, assoziiert mit dem Nachweis von GQ1b-Antikörpern (Gangliosid-Antikörper) im Serum. Eine Schwäche der mimischen Muskulatur kann zusätzlich vorhanden sein, Paresen der Extremitäten ist nicht die obligat.
  • Variante mit akuten Paresen der oropharyngealen, der Nacken- und Schultermuskulatur unter Aussparung der Extremitäten.
  • Die sensible Variante ist charakterisiert durch Entwicklung akuter sensibler Defizite ohne Paresen. In der Elektroneurografie motorischer Nerven sind Demyelinisierungen nachweisbar.
  • Eine akute Pandysautonomie ohne begleitende sensomotorische Defizite ist selten.

Pathogenese

Die AIDP ähnelt der experimentellen autoimmunen Neuritis (EAN), ausgelöst durch T-Zellen, die gegen Peptide der Myelin-Proteine (P0, P2 und PMP22) gerichtet sind. Die Rolle der T-Zell vermittelten Immunität ist bei der AIDP noch unklar, es gibt Hinweise für eine Beteiligung von Antikörpern und Komplement. Aktivierte Makrophagen sind involviert bei der akuten Demyelinisierung. Insbesondere gegen Ganglioside gerichtete Antikörper scheinen eine wichtige Rolle in der Pathogenese des GBS zu spielen. Gangliosid-ähnliche Epitope existieren in der Wand des Bakteriums Campylobacter jejuni. Infektionen mit diesem Erreger oder anderen Organismen führen zu einer Immun-/Antikörper-Antwort bei Pateinten mit GBS. Die Häufigkeit vorausgegangener Infektionen ist wie folgt: Campylobacter-Jejuni in 4-66 % (gehäuft bei schwerer axonaler Verlaufsform); Cytomegalie-Virus in 5-15 % (gehäuft bei Verläufen mit ausgeprägten Sensibilitätsstörugen); Epstein-Barr-Virus in 2-10 % und Mykoplasma pneumoniae in 1-5 %.

Bei den axonalen GBS-Varianten scheinen Antikörper involviert zu sein, die gegen Ganglioside auf dem Axolemm gerichtet sind. GM1-Antikörper sind bei 14-50 % der GBS-Patienten nachweisbar, insbesondere in Fällen mit ausgeprägtem axonalen Untergang.

Beim Miller-Fisher-Syndrom ist eine Assoziation mit GQ1b-Antikörpern bekannt, die in vitro durch einen Komplement-vermittelten Mechanismus zu einer Schädigung der motorischen Nervenendigungen führen.

Zusätzliche Diagnostik

  • Elektroneurografie: Unterscheidung zwischen demyelinisierendem GBS und den axonalen Varianten.
  • Elektromyografie: bei demyelinisierendem GBS kein oder nur spärlich Nachweis von pathologischer Spontanaktivität als Zeichen für axonalen Untergang. Bei den axonalen Varianten ist viel pathologische Spontanaktivität nachweisbar.
  • Liquordiagnostik. Typisch ist die zytoalbuminäre Dissoziation, d.h. Eiweiß-Erhöhung durch Störung der Blut-Nerven-Schranke bei normaler Zellzahl.
  • Labordiagnostik: Nachweis einer vorausgegangenen Infektion durch Erreger-Serologie. Nachweis assoziierter Antikörper im Serum.
  • Nervenbiopsie: zur Diagnosesicherung nicht erforderlich. Kann bei atypischen/rezidivierenden Verläufen durchgeführt werden.

Therapie

Internationale randomisierte Studien haben einen gleichwertigen und guten Effekt von Plasmapherese und hochdosierter intravenöser Immunglobulingabe gezeigt, gegeben in den ersten 2-4 Wochen nach Beginn der Erkrankung. Diese Therapie wirkt sich positiv auf den Verlauf der Erkrankung und Ausbildung von Residuen aus. Bei Kindern ist die hochdosierte i.v. Immunglobulingabe die Therapie der ersten Wahl. Prednisolon ist beim GBS wirkungslos und daher nicht indiziert.

Prognose

Die Mortalität liegt bei 5-15 %. In den meisten Fällen kommt es zur langsamen Rückbildung (Wochen bis Jahre) von Paresen und Sensibilitätsstörungen. Ca. 20 % der Patienten behalten neurologische Defizite. In ca. 3 % kommt es nach Jahren zu einem Rezidiv.

Ansprechpartner

Dr. Beate Schlotter-Weigel